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Die unbeleuchtete Seite der Worte

2015

so überschreibt Klaus Schneider seine Intervention in der Pfaffendorfer Kirche. Bevor wir uns aber den dunklen Seiten der Worte zuwenden, richten wir unser Augenmerk zuerst auf das was wir sehen:

Die Seitenwände des Kirchenschiffs, aber auch die Wand des Altarraumes und des Triumphbogens, sind mit einem geheimnisvollen Muster aus bläulich glänzenden Swarovski-Glassteinen beklebt. Dazwischen monochrom bemalte, DIN A 4 große Büttenpapierblätter, auf denen man beim Näherkommen Punkte erkennen kann, minimale skulpturale Erhebungen mit minimalem Schattenwurf.
Alles angeordnet zu einem rhythmischen Muster: Glanzpunkte und dunklere Stellen formen sich zu Linien und Verdichtungen. Ein schmückendes Wandrelief?

Zudem sehen Sie 2 Objekte und ein gerahmtes Bild:

Korrespondierend zur Altarbibel ein dort ungewohntes Buch, gestaltet aus Eichenholz mit nur zwei Seiten. Auf der einen aufgeschlagenen Seite Halbkugeln die nach außen gestülpt sind, auf der andern halbkugelförmige Leerräume die nach innen ins Holz gehen. Spiegelverkehrt angeordnet. Zusammengeklappt ergänzen sich beide Seiten und fügen sich zu einem Ganzen.

Am Ort, wo normalerweise das Taufbecken steht, sehen Sie den sogenannten Textbrunnen:
verschiedene Glasscheiben sind übereinandergeschichtet, darin Punkte wie Wassertropfen auf verschiedenen Ebenen. Am Grund ein Spiegel, der den Blick in die Tiefe zieht und das eigene Bild und das Bild des Raumes zurück wirft, wenn man hineinsieht.
Das gerahmte Bild finden Sie links neben der Orgel.

Blindenschrift

Dass bei allen Arbeiten Blindenschrift verwendet wurde, ist am deutlichsten an den Papierbögen mit Original Brailleschrift zu erkennen.
Diese Schrift wurde 1825 von dem Franzosen Louis Braille entwickelt und besteht aus Punktmustern, die, von hinten in das Papier gepresst, mit den Fingerspitzen als Erhöhungen zu ertasten sind.
Sechs Punkte, drei in der Höhe mal zwei Punkte in der Breite, bilden das Raster für die Punkte-Kombinationen, mit denen die Buchstaben dargestellt werden. Bei sechs Punkten ergeben sich 64 Kombinationsmöglichkeiten.
Gewöhnlich durch Prägungen auf Papier zu einem taktilen Alphabet geformt, eröffnet es Blinden eine Welt – für Sehende bleibt es ein oberflächengestaltendes Muster.

Damit Blinde die Schrift lesen können ist es notwendig, dass die Punkte erhaben sind und den gewohnten Abstand zueinander haben.
Dies ist hier nur auf den Papierbögen der Fall. Ansonsten ist die Schrift an Stellen des Raumes angebracht, wo niemand hinkommt oder der Abstand zwischen den Punkten für Blinde zu groß ist um eine Lesbarkeit zu ermöglichen.
Klaus Schneider konfrontiert uns also bewusst – aus seiner Haltung des Sprachskeptikers heraus – mit einem Paradoxon:
Sie sehen Blindenschrift, die für Sehende zum Ansehen gemacht ist, die Blinde nicht ertasten, die Sehende aber nicht lesen können.

Solange, bis wir das Geschriebene entschlüsselt haben, befinden wir uns als Wahrnehmende selbst im Zustand des Blindseins. Das verunsichert, denn das Sehen ist der Sinn, auf den wir uns am meisten verlassen und der in unserer sinnlichen Wahrnehmung der dominanteste ist. Beim Betrachten der Arbeit von Klaus Schneider sehen wir zwar etwas, bleiben aber desorientiert wie in einer Stadt, deren Sprache und Schrift wir nicht kennen.
Herausgerissen aus dem normalen Ablauf von „Sehen – Erkennen – Handeln„ stehen wir enttäuscht da. Von einem Bild ablehnend behandelt, das mit einer Botschaft lockt, die es nicht preisgibt. Ausgeschlossen vom vertrauten Orientierungs- und Kommunikationssystem werden wir zu einem behinderten Betrachter, dem so der eigene blinde Fleck bewusst wird und dessen „augen zum fragen“ gebracht werden.

Im Alltag ist das Blindsein im übertragenen Sinn ein häufiges Phänomen: überreizt von Informationen und Bildern und mit der dadurch notwendigen Wahrnehmungsanästhesie, sind wir oft blind gegenüber allem, was hinter dem Offensichtlichen und Blendenden, was auf der lichtabgewandten Seite der Dinge liegt, sei es im Bereich der Kunst, der Religion oder in Bezug auf soziale Realitäten.

Seit Jahren hat Klaus Schneider die Brailleschrift als künstlerisches Element in seine Arbeiten integriert. Sie kommt seinen Zweifeln an der direkten kommunikativen Kraft der Worte entgegen, denn Sprache beruht auf einer festgelegten Ordnung, die Gemeintes auf ein Wort verkürzt. Dadurch wird etwas verallgemeinert und nur ungenau erfasst. Wörter sind aber mehrdeutig und werden immer mit subjektiven Inhalten gefüllt. Keiner meint dasselbe, wenn er „Mutter“ oder „Vater“ sagt.
Erst in der poetischen Verwendung von Sprache, d.h. in einem assoziativen, offenen und spielerischen Umgang damit gelingt es, das Auszudrückende annähernd zu be- oder zu umschreiben.

In der bildenden Kunst und in der Literatur finden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Entgrenzungstendenzen und eine schrittweise Verzahnung der beiden Bereiche Bild und Wort.
Die bildende Kunst integriert zunächst Sprachschnipsel, die dann als gleichberechtigter Teil neben den visuellen Elementen bestehen und in einem weiteren Schritt diese vollständig ersetzen können.

Auch von Seiten der Literatur gibt es Annäherungen an das Bildhafte. Die Visuelle Poesie formt aus Text und typografischer Anordnung wie durch das Platzieren der Worte auf der weißen Grundfläche des Papiers ein Bild. Inhalt und Form sollen sich wechselseitig spiegeln und ergänzen. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht „Ein Würfelwurf“ von Stephane Mallarme, welchem Klaus Schneider in einer seiner älteren Arbeiten eine neue Gestalt verliehen hat.
Mallarme versteht „das Auftauchen von Wörtern und Wortgruppen aus dem Weiß der Seiten als Auftauchen der Wörter aus dem Schweigen.“

Welche Worte oder Wortgruppen lässt Klaus Schneider hier im Kirchenraum hinter seinem Verschlüsselungsprinzip in Erscheinung treten?

_wie willst du die stille herbeireden
musst du sie nicht erschweigen?_
oder
wie machen denn wir an uns blinden die Worte sehend?

Wie zufällig scheinen diese Fragen in der Pfaffendorfer Kirche über die Wand verteilt zu sein. Hingeworfene Worte.
Wir sehen, lesen nach, sehen wieder, verstehen, lassen uns ansprechen, komponieren neue Texte aus den Worten, stellen neue Fragen.

Dazwischen auf den farbigen Blättern Eigenschaftsworte jeglicher Art:

teuflisch oder frisch

Die Adjektive stehen auf unterschiedlich farbigem Grund, der dem gelesenen Wort eine zusätzliche Information und Konnotation mitgibt. Und fasse ich frisch nicht anders auf, je nach dem, in welchem farblichen Kontext das Wort steht? Empfinde ich frisch auf grünem Grund frischer als auf braun?

Im Buch finden sich lediglich zwei Worte:

Auf der linken Seite können wir wer lesen und es könnte der Anfang eines Fragesatzes sein. Rechts steht wir. Den Inhalt des Buches könnte man wie folgt zusammenfassen: Wer …? Wir. Welche Frage wir aber in Gedanken konkret stellen oder welchen Satz wir bilden, ist unsere Entscheidung.

Aus der Tiefe des Textbrunnens tauchen – geformt wie Perlen auf einer Schnur – die Worte auf:

mein blick fiel fast beiläufig auf ein gleichsam körperlich gewordenes schweigen

Durch diese wenigen Textbeispiele von Klaus Schneider sind wir eingetaucht und mittendrin in der poetischen Dimension der Worte. Beim Lesen hören wir eher Wortklänge als klare Ansagen, Wortklänge, die im Inneren Verborgenes berühren können.
Seine Fragen und Textfragmente geleiten uns in eine Art Schwebezustand, sie führen uns auf die unbeleuchtete Seite der Worte in einen Raum der Ungewissheit, in dem man sich auf andere Art ansprechen lassen kann, für den man aber auch eine andere Sprache entwickeln muss.

Und dies ist nicht nur die Aufgabe der bildenden Kunst oder der Literatur, sondern auch die Aufgabe der Religion: existentielle Fragen wach zu halten, immer wieder neu zu stellen und ohne die Sicherheit einer Antwort neue -bildhafte oder wortreiche – Sprachen zu entwickeln für etwas, das man nicht sehen und das man nicht dingfest machen kann.

Birgit Weindl, 22.5. – Pfingsten 2015